MV & seine Menschen 2. Teil

MV & seine Menschen 2. Teil

Land der Junker und Tagelöhner

Mit wenigen Ausnahmen ist unsere Geschichte nicht von weltbewegenden positiven Ereignissen oder Erfindungen geprägt, die die Gesellschaft vorangebracht hätten oder auf die wir stolz sein könnten. Das trifft sowohl auf Mecklenburg als auch auf Vorpommern zu. Beide gehörten, historisch gesehen, staatlich nicht zusammen. Doch waren sie in ihrer Armut und ihren rückschrittlichen Lebensverhältnissen sehr ähnlich. Mecklenburg war ein eigenständiges Land, zu dem gehörten: Mecklenburg-Strelitz (die Region um Neustrelitz plus die Ratzeburger Gegend) und Mecklenburg-Schwerin (alles was es da noch gab). Vorpommern gehörte historisch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zur Provinz Pommern im Freistaat Preußen, zu der außerdem noch Hinterpommern gehörte. Lediglich Vorpommern blieb deutsch nach dem 2.Weltkrieg, der Rest Pommerns ist heute polnisches Staatsgebiet.
Was beide Teile des Landes historisch vereint ist, zum einen die Sprache und Volkskultur und zum anderen die ähnlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die waren seit jeher durch die Agrarwirtschaft und ausgesprochen lange durch feudalistische Verhältnisse bestimmt.
„Friedrich Engels konstatierte 1873, nichts übertreffe die Rückschrittlichkeit Preußens, außer Mecklenburg und Russland‘. 1876 stellte er ergänzend fest, dass die bürgerliche Agrarreform des 19. Jahrhunderts in Deutschland mit den Resten des Mittelalters‚ so ziemlich‚ aufgeräumt hätte. ‚Wir sagen so ziemlich, denn in Mecklenburg besteht der Feudalismus noch in ungeschwächter Kraft fort.‘“**
Damit dürften wir auch schon auf Julius Webers „Pest der Gesellschaft“ zurückgegriffen haben.
Die „Pest der Gesellschaft“, die rückschrittliche Gesellschaftsform des Feudalismus hat sich in Mecklenburg und Vorpommern mit allen ihren Krankheiten sehr lange gehalten. Die Leibeigenschaft wurde in Pommern 1810 und Mecklenburg erst 1820/21, damit sehr viel später als in anderen Ländern, aufgehoben.
Was war die Leibeigenschaft? Mecklenburg und auch Vorpommern waren vorwiegend von der Ritterschaft (den Junkern / den Großgrundbesitzern / den Gutsherren / dem Landadel) beherrschte Agrargebiete. Der oberste Landesherr war in Mecklenburg einen Herzog, (in späterer Geschichte gab es zwei Großherzöge). Das Land wurde an getreue Vasallen des Landesherrn zur Bewirtschaftung vergeben. Sie waren, überwiegend Grundbesitzer niederen Adels, die Ritterschaft oder auch „Junker“ genannt. Die Ritterschaft (auch Junker) wiederum herrschte über ihre Bauern, denen sie Land überlassen hatten, das sie beackern konnten. Dafür waren diese zu Frondiensten (Dienstleistungen) dem Junker gegenüber verpflichtet. Nach dem 30jährigen Krieg, der verheerende Folgen für die Mecklenburger und Vorpommern mit sich brachte, und mit Beginn des 17. Jahrhunderts kam es in Westeuropa zum Wachstum der Städte und der Bevölkerung. Das war für die Junker eine Herausforderung, ihre agrarwirtschaftlichen Flächen zu erweitern, um mit vermehrtem Getreideabsatz in den neuen Städten ihre Kassen zu füllen. Eine Voraussetzung dafür war die Beschaffung neuen Grund und Bodens. Das war nur möglich, indem sie die Bauern, die teilweise seit der Ostexpansion im 12./13. Jahrhundert im Besitz ihrer Höfe und Äcker lebten und arbeiteten, mit faulen Tricks enteigneten. Das sogenannte „Bauernlegen“ begann. Die Bauern verloren ihren Besitz und wurden zu Gutsarbeitern und Tagelöhnern. Sie waren nun mit der ganzen Familie dem Willen und der Willkür des Junkers/ Gutsbesitzers unterworfen.
Durch das sogenannte Bauernlegen rottete der Feudaladel die freien Bauern in der Mitte des 18. Jahrhunderts fast völlig aus. ***
Leibeigene waren rechtlose, der Willkür und den Anordnungen des Gutsherrn ausgelieferte Menschen, die am Rande ihrer Existenz in Mecklenburg und auch in Vorpommern lebten. Doch die Junker hatten gewisse Verpflichtungen ihnen gegenüber, z. B. sie zu schützen, ihnen Wohnraum zu geben, sie sozial abzusichern. Die Verpflichtungen der Junker fielen weg, als die Leibeigenschaft in Mecklenburg und Vorpommern aufgehoben wurde, sodass die Gutsarbeiter und Tagelöhner mit ihren Familien schutzlos wurden und in noch größere Nöte gerieten .
Noch mehr Armut und Zwänge traten für die Landarbeiter auf die Tagesordnung. Sie mussten sich bei Gutsbesitzern oder Großbauern als Lohnarbeiter verdingen.
Die Existenz der einiger Städte hatte wenig Einfluss auf das Alltagsgeschehen auf dem Land, sowohl in Mecklenburg als auch in Vorpommern.
Zwischen 1850 und Anfang des 20sten Jahrhunderts kam es zu einer Massenflucht aus Mecklenburg. Es verließen mehr als 200.000 Mecklenburger das Land, um in Südamerika, Südafrika, Australien und überwiegend in den USA neue Lebenschancen zu finden. ****
Die industrielle Revolution, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in anderen deutschen Ländern längst Einzug gehalten hatte, machte um Mecklenburg und Vorpommern einen großen Bogen. Über Bodenschätze verfügten Mecklenburg und Vorpommern nicht, die vielleicht eine Basis für die Entwicklung einer Industrie hätten sein können. Keine Industrie, keine Lohnarbeiter. Die Arbeiterklasse konnte sich nicht entwickeln. Es blieb in Mecklenburg und Vorpommern beim Handwerk und dem Ackerbau, den Handwerkern und den bäuerlichen Landarbeitern, beim mittelalterlichen, rückschrittlichen Feudalismus.
Schwere Arbeit, Untertänigkeit, Erniedrigung, Armut und Rückständigkeit waren das Markenzeichen von Mecklenburg und auch von Vorpommern.
Wo Armut herrscht, gibt es keine Bildung, kann es keine hohe Kultur, keine großen Erfindungen, keine Reisekultur, kein positives Selbstwertgefühl, keine Weitsicht geben. Für positive, schöpferische, geistige Entwicklung gab es hier weder Zeit noch Raum. Unfreiheit, Enge, Begrenztheit, Druck und Intoleranz, Gehorsam, Unwissenheit, Anpassung, Angst waren u. a. unmittelbare Folgen. Unfreie Menschen = unfreies Denken = unfreies Handeln.
Wie weit der Horizont der Menschen praktisch reichte, widerspiegelt sich in einem alten niederdeutschen sogenannten „Sagwort“. Es heißt da: “Ach Mudder“, sä de Jung, „wat is de Welt grot! Achter Kriewitz stahn ok noch Hüser!“ / „Ach Mutter“, sagte der Junge, „was ist die Welt groß! Hinter Kriewitz (Ort in Mecklenburg) stehen auch noch Häuser!“

Fortsetzung folgt

** Aus: „Mecklenburg Ein Gästebuch“, Hrsg. Urich Bentzien, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1980, Grundlage: Marx/Engels, Werke, Bd. 34, S. 151, Bd. 18, S. 290; Bd. 19, S. 81 u. 89, Bd. 22, S. 524
***(https://www.svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/mecklenburg-magazin/vom-bauernlegen-in-mecklenburg-id16452941.html)
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