MV & seine Menschen 4. Teil

MV & seine Menschen 4. Teil

MV in der BRD

Nach der Wende 1989 geriet vieles, ja eigentlich alles, durcheinander. Wir bekamen wieder die alten Gesetze, die Frauen kämpften wieder um ihre Gleichberechtigung. Kindergärten wurden geschlossen. Es gab nun auch wieder Bundesländer. Jedes Bundesland bekam eine eigene Regierung mit eigenen Regelungen für ein dreigliedriges Schulsystem (das in der DDR als rückständig abgeschafft wurde), statt einer staatlichen Krankenkasse gab es jetzt viele, gesetzliche und private. Unsere teilweise neuen Betriebe wurden von der Treuhand für 1 € an westdeutsche Unternehmer verkauft, dann platt gemacht oder die Produktionsrechte (z. B. von Bier, Zucker) durch Verlegung in den Westen „exportiert“, die Produktion wurde hier eingestellt. Jugendklubs wurden geschlossen und von nun an trafen sich die jungen Leute irgendwo, z. B. an der Tanke. Kultureinrichtungen und Veranstaltungsangebote wurden zusammengestrichen, Volkskunstgruppen wurden jetzt Vereine oder verschwanden ganz. Menschen verloren ihre Arbeit, manche für immer ihren Beruf, weil die Bundesrepublik ihre Berufsbilder nicht im Programm hatte. Wir alle, die ehemaligen DDR-Bürger, verloren unsere Identität. Das heißt, das, was im Leben eines einzelnen bedeutsam, seine Geschichte war, zählte nicht mehr, existierte nicht mehr oder war gesellschaftlich verwerflich geworden. Viele Menschen, die für ein besseres Land auf die Straße gegangen waren, fühlten sich von der Bundesrepublik okkupiert, betrogen. Wir wurden Fremde im eigenen Land. Es folgten Arbeitslosigkeit, Entmutigung, Verzweiflung, Neid. Viele Menschen, besonders die Jugendlichen, verließen Mecklenburg und suchten in anderen, reicheren Bundesländern nach Arbeit und Lebensglück. Die Einführung der D-Mark verdrehte manchem den Kopf.
Aus der geregelten, überwachten und „fürsorglichen“ DDR entlassen, wussten viele Menschen mit ihrer neu gewonnenen Freiheit nichts anzufangen. Die Arbeitslosigkeit vererbte sich und hinterließ Spuren in der Psyche und Lebenseinstellung vieler Menschen. Unzufriedenheit und Voreingenommenheit vieler mecklenburgisch-vorpommerscher Leute mündete in der braunen Ecke, die ziemlich groß geworden ist. Der östliche Teil der Ostseeküste und viele kleine Städte wurden zum Sammelbecken von Nazis und der AfD. Labile Jugendliche ohne Aussicht auf eine Arbeit und eine eigene Zukunft in MV waren für die braunen Paten, Alt-Nazis aus dem Westen, ein willkommenes Mistbeet für ihre braune Gedankensaat, was mich und viele andere sehr beschämt.
Ich möchte aber auch erwähnen, dass wir uns im Osten über die angenehmen Neuerungen, die die Bundesrepublik über uns gebracht hatte, freuten: Kopierer, Faxe, Drucker, Computer, schicke Klamotten, volle Supermärkte ohne Mangelerscheinungen. Jetzt leben wir schon 29 Jahre in diesem „wiedervereinten Deutschland“, die Gehälter sind im Osten, besonders in MV, viel niedriger als im Westen. Frauen verdienen in der Regel weniger als Männer. Ostrenten sind niedriger als Westrenten. Das macht Enttäuschung, Frust, Neid und bei vielen Hass. Wohin mit der Enttäuschung, dem Neid, dem Frust, dem Hass? Man überträgt alles das auf andere: auf Ausländer/innen, Schwule und andere Randgruppen. Missgunst kommt auf. Die Angst wird laut, die Migranten könnten den Einheimischen etwas wegnehmen und den Steuerzahlern das Geld aus der Tasche ziehen. Dabei war mancher gerade selbst Arbeitslosengeld-II-Bezieher und lebte auf Kosten anderer Steuerzahler! Horrorszenarien werden in die Welt gesetzt. Es entstehen Aggression in Wort und Tat, Misstrauen, Unfreundlichkeit, Intoleranz, Engstirnigkeit,…, Verschlossenheit, Wortkargheit, Ignoranz, Kälte. Eben alles das, wovon wir eingangs schon sprachen.
Apropos „Wortkargheit“. Mecklenburger und Vorpommern erzählen gern die folgende Anekdote: Ein Bauer fährt mit seinem Knecht auf dem Pferdewagen in die Stadt. Links und rechts von ihnen wird die Straße von Kornfeldern gesäumt. Der Bauer sagt zu seinem Knecht: „Dat Kurn steiht hier öwer gaut. (Das Korn steht hier aber gut)“ Nach fünf weiteren Kilometern Fahrt antwortet der Knecht: „Hier öwer uk. (Hier aber auch.)“ Als der Bauer nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: “Mit denn führ ick nich mir tau Stadt. (Mit dem fahr ich nicht mehr zur Stadt.)“ Seine Frau fragt besorgt nach dem Grund und er antwortet: „Die quatscht mi tau väl. (Der redet zu viel.)“