Mehr über mich

Auf der Suche
Gabis Großmutter stammte aus Rumänien und konnte im Kaffeegrund die Zukunft lesen. Als ich 16 war, fand sie für mich heraus, dass ich erst in sehr späten Jahren das finden werde, wonach ich suche.
Ja, wonach sucht man denn in seinem Leben? Nach Liebe und dem Glück, oder? Und wann ist „in späten Jahren“?
Damals war für mich ganz klar, ich würde wohl recht alt werden müssen, um, nach möglichen Verirrungen, den Mann meiner Träume finden.
Was auch anderes konnte im Kopf einer Sechzehnjährigen herumspuken?
Die späten Jahre sind längst über mich hereingebrochen. Heute bin ich 64 und ich denke über diese Prophezeiung nach. Ja, wonach habe ich denn eigentlich gesucht?

Die bisherigen Erwachsenenjahre habe ich an der Seite eines Mannes verbracht, gemeinsam haben wir eine wunderbare Tochter und es sieht nicht so aus, als käme es da zu großen Veränderungen. Also die Art von Liebe und Glück war es wohl nicht, die gemeint war. Oder doch? Hatte ich danach gesucht?
Wonach ich jedoch immer auf der Suche war, war eine Tätigkeit, die nicht nur notwendiges Übel ist, sondern, die mich und meine Kreativität fordert, die mich mit Liebe erfüllt und glücklich macht. Ich war immer auf der Suche nach einer Arbeit, die meinem Leben einen Sinn und mir meine Bestimmung gibt.
In der DDR groß geworden, war für die meisten Menschen wichtig, einen „anständigen“ Beruf zu erlernen.
Schon sehr bald war klar, dass mein Beruf etwas mit fremden Sprachen zu tun haben müsste, obgleich ich in vielerlei Richtung Ausschau gehalten und auch Helferberufe wie Ärztin oder Krankenschwester in Erwägung gezogen hatte. Doch ich landete immer wieder bei der Suche nach dem Fremden. Fremde Menschen, andere Länder, die man nur in vollem Umfang in Sonderberufen wie Stewardess oder Dolmetscherin sehen würde, oder gar als Archäologin …. Was von diesen Träumen blieb, war am Ende der 11. Klasse die Entscheidung: Dolmetscherin oder Lehrerin für fremde Sprachen zu werden. Ersteres habe ich, nach gründlicher Prüfung, abgewählt, weil ich frei sein wollte in meiner Rede und nicht die Vermittlerrolle zwischen Personen und ihren Meinungen einnehmen wollte. (Obwohl mir das Vermitteln liegt. Aber eher psycho-kommunikativ gesehen.)
So wurde ich Sprachlehrerin für Russische und Englische Sprache und Literatur mit Diplom, wohlwissend, dass Pädagogik nicht mein Ding war.

Doch ich hatte Träume. Ich werde alles anders machen als die meisten meiner Lehrer und -innen: Kumpel sein, mit Spaß unterrichten, nach neuen Lehr-und Lernmethoden suchen, die Kinder aufschließen, dass sie mir zuhören würden und ich unterrichten, meine Sprachen lehren könnte. Eben alles anders machen!
Träume! Die Praxis war ganz anders. Aus der damaligen Sowjetunion nach zwei Semestern Auslandsstudium zurückgekehrt, war ich super gerüstet für den Fachunterricht Russisch, aber, es wurden händeringend Englischlehrer gesucht. So musste ich fast ausschließlich diese, meine zweite und damals nicht so geliebten Sprache, vermitteln. Da hatte ich natürlich nicht das Rüstzeug an Erfahrung, um zu überzeugen und mitzureißen, weder sprachlich noch landeskundlich, wie in meinem Erstfach. Denn: In ein englischsprachiges Land durfte man generell nicht fahren. Es gab nur sehr wenige und nur „verdiente“ Lehrer, die in der DDR die Chance hatten, für drei Wochen nach Großbritannien zu einer Weiterbildung zu fahren. Ich kenne nur eine Lehrerin, die das durfte und tat: meine eigene. Aber das, glaube ich, ist ein eigenes Thema, das zu beleuchten wert ist. Heute kann man kaum noch verstehen, welche Stellung das Fremde, das Ausländische für uns in der DDR hatte, waren wir doch von Grenzen umgeben, sodass wir möglichst wenig mit dem Draußen zu tun bekamen. Mich aber zog es an: die anderen Menschen, ihre Sprachen, ihre Sitten, Bräuche und Religionen – die fremden Kulturen und Lebensformen.

Auch mit dem Ausprobieren anderer Lernformen war es schwer, denn ich war keine Pädagogin, wie ich selbst wusste. Ich fühlte mich dann doch häufig als Zirkusdirektorin vor der Klasse, was ich nicht sein wollte und durfte.
Die Schule verließ ich durch meine eigene Kündigung, nachdem ich meine Bestätigung als Lehrerin vorzeitig in der Tasche hatte. Was eine eigene Kündigung für einen DDR-Lehrer bedeutete, ist wieder ein anderes, interessantes Thema, das kaum bekannt ist. (Dazu später einmal.)
Singen und Darstellen als Freizeitbeschäftigung und die Leidenschaft für niederdeutsche Sprache und Volksüberlieferungen erlösten mich aus dem engen Schulalltag und erlaubten mir den Sprung in das kulturelle und künstlerische Arbeitsfeld. Allerdings war das nur mit Hilfe einer mutigen Person möglich. (Dazu später einmal.)

Nun war es nicht eine Fremdsprache, die mich gefangen hielt, sondern die Sprache meiner Vorfahren – das Niederdeutsche. Mein Arbeitsfeld hieß nun: niederdeutsche Sprache, Kultur und Lebensweise.
Ich wurde Leiterin einer von mir konzeptionell gestalteten städtischen Kultureinrichtung, die es mir ermöglichte, Forschung, Bildung und regionale Kultur unter einen Hut zu bringen und an Kulturschaffende und Interessierte weiterzugeben. Das war ein Traumjob!

Doch dieser Traumjob fiel nicht vom Himmel. Er hatte seine eigene Geschichte, die Geschichte meiner Beziehung zur Musik, zum Singen, die sich wie ein roter Seidenfaden durch mein Leben schlängelt: Als kleines Mädchen bewunderte ich die Sängerinnen, träumte vom Klavierspielen, sang meinen Freundinnen vom Hocker herab die aktuellsten Schlager vor und gestaltete die kulturellen Programme meiner Klasse wesentlich mit.
Mit 14 sang ich im Chor, ab 15 in einer Singegruppe, die politische Lieder, Liebeslieder, Volks- und Scherzlieder in ihrem Repertoire hatte und damit auftrat. Lyrik und anspruchsvolle Prosa spielten eine wichtige Rolle.
In dieser Zeit lernte ich, mich tiefgründig mit Texten und historischen Hintergründen auseinanderzusetzen, kritisch zu hinterfragen und mir eine eigene Meinung zu bilden. Ich lernte, eins zu werden mit einer Gruppe, wenn unser Auftritt es erforderte, mich zu präsentieren, wenn es um meinen eigenen Beitrag ging, sicher auf zwei Beinen zu stehen, mit dem Bauch zu atmen beim Singen und Sprechen. Und ich lernte, mich zu öffnen und vor vielen Leuten zu sprechen oder zu singen und das mit der entsprechenden Technik und Intensität, sodass man mich auch in der letzten Reihe des Saales noch verstand. Vielen Leuten, aus dem In- und Ausland, begegnete ich, von denen ich künstlerisch und menschlich lernte und die die Entwicklung meiner Persönlichkeit wesentlich beeinflussten.
Diese Zeit des aktiven Singens hat mich stark geprägt. Mein Mann meint, dass hier die Wurzeln meiner Kraft lägen. Wahrscheinlich hat er Recht. Nach meinem Studium mündete diese künstlerische Phase in die intensive Beschäftigung mit Volksüberlieferungen und dem historischen Alltag im Leben unserer Vorfahren in Mecklenburg und Vorpommern.

Meinen Mann lernte ich in meiner Teenagerzeit in der Singegruppe kennen, und gemeinsam mit ihm und einer Kollegin und einem Kollegen aus einer anderen Gruppe gründeten wir Ende der 70ger Jahre des letzten Jahrhunderts eine Musikfolkoregruppe, die sich verdient machte um das Auffinden und Wiederbeleben regionaler Volkslieder. Bis zu den 90ger Jahren war die Gruppe in der mecklenburgischen Kulturlandschaft nicht wegzudenken. Diese erfolgreiche musikalische Tätigkeit und unsere Bekanntheit öffneten mir schließlich auch die Tür in den bereits erwähnten Traumjob in einer kulturellen Einrichtung.

Doch allmählich setzte sich die Künstlerin in mir durch und gewann mehr und mehr Boden in meinem Leben und Denken. Meine langjährige nebenberufliche Tätigkeit in der Musikfolkloregruppe mündete in eine erfolgreiche Freiberuflichkeit.
Bis zur Wende.

Dann brach im Osten alles zusammen: die Wirtschaft, das politische und gesellschaftliche Leben, die Kultur – unsere Gruppe und auch ich. Jeder suchte nach seinem Platz im neuen Leben. Ich musste lernen, mich in ein komplett anderes politisches und kulturelles System eines anderen Deutschlands zu integrieren. Das fiel schwer, wenn ich meine Identität nicht verlieren wollte.

Ich besann mich auf meinen Lehrerberuf, fand ein neues Betätigungsfeld in der Erwachsenenbildung als Englischlehrerin und das, wonach ich in der DDR lange vergeblich gesucht hatte – das andere, neue, ganzheitliche Lehren und Lernen. Das hieß ab jetzt für mich Suggestopädie.
Dieser didaktisch-methodische Lehr- und Lernansatz hat mein ganzes weiteres Leben bestimmt. Eine fundierte Qualifikation und viele praktische Anwendungsjahre im Sprachunterricht eines Instituts für Wirtschaft und Sprachen zogen mich folgerichtig in die Faszination des NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren).
Mit diesem Kommunikationsmodell NLP, auf einem Zertifikat bescheinigt, erweiterten sich meine Möglichkeiten in der Lehrtätigkeit. Selbstmanagement, Kreativität, Lernen lernen, Persönlichkeitsentwicklung, Kommunikation und andere Lehr- und Lernfelder gingen zusätzlich in mein praktisches Repertoire ein.

Es folgten viele Jahre der Projektarbeit mit Frauen, die sich im beruflichen Umbruch befanden. Meine bisherigen Erfahrungen fielen auf fruchtbaren Boden bei den Frauen und führten mich unweigerlich zu meiner Tätigkeit als Coach (mit NLP-Zertifikat). Doch ich blieb auch Lernbegleiterin in der Erwachsenenbildung, was für mich viel schöner und passender klingt als Lehrerin.
Die breitgefächerten Erfahrungen aus unterschiedlichen Etappen meines Lebens, die Wiederentdeckung meines Berufes als Lernbegleiterin und Förderin unter neuen, kreativen Voraussetzungen und das Begreifen des menschlichen Lernens als lebenslangen Reifungsprozess wurden zur fachlichen und menschlichen Basis für meine Arbeit.

Ich hörte nicht auf zu träumen. Ich hatte so ziemlich alle meine beruflichen Vorhaben erreicht. Doch eines blieb zwischen den Zeilen unausgesprochen bzw. schien für andere nicht mit mir zu tun zu haben. Auch gab es keine Notwendigkeit für meinen Geheimwunsch, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Die Suggestopädie hat mich, so glaube ich, auf die Spur gebracht. Es gibt so viele Möglichkeiten, diese Methode anzuwenden! Wie beneidete ich die muttersprachlichen Kollegen, die mit dieser Methode arbeiteten! Ich war für den Englischunterricht „nur“ eine Nichtmuttersprachlerin. Meinen Schülern schien das egal, sie kamen trotzdem gern zu meinem Unterricht. Aber ich hätte doch gern gewusst, wie es ist, als Muttersprachlerin meine Sprache zu unterrichten – suggestopädisch, wenn es geht.

Es gibt da also noch etwas, was ich gerne wollte, aber nicht konnte, weil es hier in meiner Heimatregion Mecklenburg-Vorpommern auch nach der Wende keine Möglichkeit für die Verwirklichung meines Traumes gab. Um die Beschulung der wenigen Umsiedler aus der alten Sowjetunion gab es zänkische Auseinandersetzungen zwischen der Volkshochschule und karitativen Organisationen bzw. gemeinnützigen Vereinen. Da brauchte man nicht auch noch mich.
Ich träumte insgeheim von einer privaten Sprachschule für Menschen aus dem Ausland, die in Mecklenburg-Vorpommern Deutsch nach meinem eigenen Konzept lernen könnten. Meinen Mann unterstützte mich in diesem Gedanken und beinah hätten wir uns ein altes Haus auf den Leib gerissen, irgendwo in der vorpommerschen Pampa. Doch ein Funke von Wirtschaftlichkeit holte uns auf den Boden der Realität zurück.

Als 2015/16 die Flüchtlingsströme in unserem Land ankamen, zerriss es mir fast das Herz! Die Bilder aus dem Fernseher gehen niemals aus dem Kopf und kommen sie in meine Erinnerung zurück, treiben sie mir das Wasser in die Augen.
Die Vorkommnisse auf dem Mittelmeer, das Wegsehen und Ertrinkenlassen, die unglaublichen Reaktionen der europäischen Nachbarländer und mancher unserer deutschen Bürger …. stießen bei mir auf Unverständnis und machten mein Herz schwer.
Obwohl ich keine Angela Merkel-Anhängerin und Wählerin bin, war ich ihr doch sehr verbunden, als sie den Geflüchteten in ihrer Not die Türen zu unserem Land öffnete. Ja, sicher, vieles ist in diesen „heißen“ Wochen und Monaten falsch gelaufen. Manches war auch unvorsichtig und oberflächlich. Doch prinzipiell hat Frau Merkel humanistisch gehandelt und auch christlich, wenn man so will.

Mein Herz schlug für das Neue, das Fremde, das Bereichernde und ich wusste, dass mein Platz jetzt da sein müsste, wo diese Ankömmlinge Hilfe brauchten. Ich wurde Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache, von denen es zu wenige gab und immer noch gibt.
Die Lehre in einem Integrationskurs setzt voraus, dass der/die Lehrende vom Bundesamt für Migration dafür über eine spezielle Zulassung verfügt. Für mich stellte sich heraus, dass ich, ohne es zu wissen, bereits seit 2004 zugelassen war, dank meines damaligen Arbeitgebers, den ich, bevor der Bescheid kam, verlassen hatte.
So konnte ich mich der neuen Herausforderung sehr bald stellen.
In Vorbereitung meines ersten Kurses begegnete ich vielen Menschen (überwiegend aus Syrien und Eritrea) und meine Englischkenntnisse wurden zur kommunikativen Verbindung zu diesen Menschen und ließen die Sprache beinahe zu meiner Muttersprache werden. Ein angenehmes Gefühl. Da, wo ich mit Englisch nicht landen konnte, half Empathie und Körpersprache, die, so weiß man, immerhin 55 % der Kommunikation ausmachen.
Ich hatte die Möglichkeit, meine Schüler/innen so auszuwählen, wie ich meinte, dass die Ausgangskenntnisse für den Sprachunterricht kompatibel sind und eine gute Gemeinschaft zu erwarten ist. Das Ergebnis war eine Familie.

Ich habe alles gegeben für diese jungen Leute, habe bis spät in die Nacht vorbereitet, nachbereitet, Sonderwünsche bearbeitet. Oft fiel ich erschöpft ins Bett und stand morgens müde auf. Doch, schon auf dem Weg zur Arbeit entspannten sich Körper, Seele und Geist. Es zog ein breites Lächeln über mein Gesicht, mein Herz schlug schneller je näher ich der Arbeitsstätte kam. Ich freute mich auf jeden einzelnen Menschen in meinem Team und vor allem in meiner Klasse: seine Besonderheiten, Fragen, Wünsche, Späße.
Ja, Späße – etwas, was man sich bei den Lebensgeschichten dieser von Krieg geschlagenen Menschen, mit unergründlichen Traumata, Sorgen um Familienmitglieder und Freunde daheim – gar nicht vorstellen mag. Wir haben über uns selbst gelacht, uns umeinander gesorgt, uns über jeden Ausweis gefreut, der von der Ausländerbehörde abgeholt werden konnte, auch geweint, wenn es nicht anders ging.
Auch wenn nicht immer alle die Hausaufgaben machten, wie ich es gewünscht hätte und auch, wenn manche den Unterrichtsbeginn um 9:00 Uhr viel zu früh fanden, ließ sich keiner den Spaß am Lernen verderben, auch ich nicht. Und gelernt habe ich mindestens ebenso viel wie „meine lieben Schülerinnen und Schüler“. Dafür bin ich dankbar.

Diese Art von Glück, wie ich sie in den letzten zwei Jahren meiner beruflichen Laufbahn erleben durfte und immer noch spüre, hat mich erfüllt. Ich habe etwas Wissen und viel Liebe gegeben. Und ich habe viel Wissen und zwanzigfach investierte Liebe und Dank auf einen Schlag zurückbekommen. Das ist Glück pur!

Vielleicht ist es das, was Gabis Großmutter im Kaffeegrund für mich gefunden hat. Vielleicht aber halten die nächsten Jahre, die ich als Rentnerin gestalten werde, ganz andere, noch tollere Herausforderungen und sinnerfüllte Aufgaben für mich bereit?
Ihr könnt daran teilhaben, wenn Ihr wollt. Auf jeden Fall werdet Ihr unter anderem auch einigen Menschen begegnen, die in ihrer Not kamen, die mein Herz weit aufgehen ließen und meinen Horizont erweiterten, damit die Sonne mit ihrer Wärme in mir ihren Platz findet und kräftig leuchten kann .
Bis dann!

Februar 2018