Es ist Samstag, der 6. Juli 2013 in Berlin. Der Sommer zeigt sich von seiner besten Seite. Unter den Linden Nr. 40 wartet eine kleine Menschenmenge auf eine bevorstehende Bustour durch Berlin. Ein junger Mann befragt die Leute nach ihren Anmeldungen. Der Mann gleicht ab, hakt ab und kassiert die Teilnahmegebühr. Auch meine Freundin Sigrid und ich unterziehen uns der Prozedur und sind froh, als der schicke, schwarze Reisebus naht und wir ihn endlich besteigen können.
Es sind 22 Sightseeing-Tour-Teilnehmer/-innen im Bus. Der junge Mann von vorhin stellt sich als unser Begleiter Alex vor. Die meisten Tour-Teilnehmer/-innen sind Nicht-Berliner oder Neu-Berliner wie Sigrid.
Aus Alex‘ Worten spricht die tiefe Verbundenheit mit dieser Stadt, die er in unserer Fantasie als großes FREILICHTMUSEUM entstehen lässt, als eine Stadt, in der Weltgeschichte geschrieben wurde und wird.
Es ist eine Tour durch die Geschichte der Stadt, die am Brandenburger Tor beginnt.
Das Brandenburger Tor in seiner Urform, erbaut im 18. Jahrhundert, befremdet die Tourteilnehmer/-innen, waren es doch zunächst lediglich zwei unscheinbare Säulen, die in den Berliner Himmel ragten und das Tor ausmachten. Eine Fotodokumentation, die das Gesagte visuell unterstützt, zeigt den optischen Wandel des Tores, das dann endlich die heutige Form angenommen hatte und 1794 die berühmte Quadriga auf das Haupt gesetzt bekam. Als Napoleon 1806 in Berlin einzog, nahm er die Quadriga als Beute mit nach Paris, was ihm die Berliner nicht verzeihen wollten. 1814 brachte die Preußische Befreiungsarmee die Quadriga dann zurück nach Berlin an ihren Bestimmungsort.
200 Jahre war das Brandenburger Tor das Siegessymbol der Mächtigen, nach dem Mauerfall 1989 das der Wiedervereinigung.
Weiter geht die Tour zum Pariser Platz, über die wichtigste Berliner Straße, die Straße Unter den Linden, wo die neue U-Bahn-Linie, die zum Alexanderplatz führen soll, gebaut wird. Zwei Stationen sind bereits fertig gestellt.
Wir erfahren, dass diese Straße, die unter den Linden, einst ein einfacher Weg war, der Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Boulevard ausgebaut und die Kreuzung Friedrichstraße DER Knotenpunkt wurde. Bilddokumente zeigen uns die stark bevölkerte Kreuzung in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Im Französischen Viertel angekommen, erklärt Alex uns, dass nach dem dreißigjährigen Krieg die Bevölkerung Berlins stark reduziert war und der Kurfürst Juden und Hugenotten nach Berlin holt, die sich hier, in diesem Viertel ansiedelten. Der Gendarmenmarkt mit dem Alten Schauspielhaus und dem Französischen Dom sind noch so erhalten wie sie einst angelegt waren und sind immer wieder eine Augenweide für jeden Besucher.
– Unsere Augenweide ist allerdings wiedermal durch Bauzäune sehr eingegrenzt. Zum Glück unterstützen die Bilder und Videos auf dem Monitor das von Alex Gesagte. –
In diesem für die zugezogenen Franzosen geschaffenen Viertel baute man dann auch eine deutsche Kirche, zum Zeichen der Verbundenheit mit Frankreich in der vornapoleonischen Zeit.
Wir hören vom Initiator der Lokalität, Friedrich dem Großen, dem die Stadt die wunderbaren baulichen Ensembles zu verdanken hat. Unter anderem schuf er die erste freistehende Oper, die als erste Oper für „normale“ Bürger zugänglich wurde. Wenn diese auch die Kunst nur stehend genießen konnten, während für die Adligen Holzbänke vorgesehen waren.
Die Sonne bescheint auf der linken Seite unseres Busses die Humboldt-Universität, 1810 gegründet, und nach einem der beiden berühmtesten Männer jener Zeit benannt, Alexander von Humboldt. Den anderen Berühmten nannte man Napoleon.
Wir hören von der Grünen Kuppelkirche, die St. Hedwigkathedrale, und davon, warum das evangelische Berlin in seinem Herzen eine katholische Kirche zugelassen hat.
Aus dem Busfenster sehen wir eine Menschenmenge um einen kleinen Ort versammelt, mitten in Bauzaunverhauen. Ein weißer, in die Erde eingelassener Kasten, mit leeren, weißen Bücherregalen bestückt, abgedeckt durch eine Glasscheibe wird auf dem Monitor sichtbar und zeigt uns, was wir ob der Menschenmenge nicht sehen können in natura. Dies ist der legendäre Ort auf dem Berliner Opernplatz, an dem am 10.05.1939 die Bücherverbrennung stattfand. Irgendwie spüre ich eine innere Betroffenheit als uns das Video dieses Ereignis auch bildlich ins Verständnis bringt. Namen wie Erich Kästner, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und viele, viele andere jüdische, kommunistische oder regimekritischer Autoren werden genannt und ihre Werke unter dem hasserfüllten Herausbrüllen der 99 Feuersprüche ins Feuer geworfen…
Die Betroffenheit nehme ich mit auf den weiteren Weg, vorbei am Zeughaus, der Schlossbrücke, geziert mit Schinkel-Figuren, zum Platz, wo einst das Schloss und später der Palast der Republik zu DDR-Zeiten gestanden hat. Immer wieder bedaure ich, dass dieses schöne, funktionale Kulturhaus und Sitz der Volkskammer der DDR-Zeit unter dem Vorwand der Asbestverseuchung abgerissen werden musste… Ein Nachbau vom alten Schloss soll an die Stelle gesetzt werde. Ein Verständnis für den Sinn dieses Unterfangens aus dem Blickwinkel der Geschichte und die Draufsicht auf das bauliche Ensemble konnte Alex mir zwar nahebringen, doch den finanziellen Aufwand für den Neuaufbau des im zweiten Weltkrieg zerstörten Schlosses in einer Zeit, wo Deutschland und Berlin so sehr verschuldet sind, nicht.
Weiter geht es an der Museumsinsel, dem Welt-UNESCO-Kulturerbe, vorbei, dem Dom, der ältesten Berliner Kirche, St Marien, vorbei. Wir sind immer noch in Berlin Mitte, fahren vorbei an Wowis Rotem Rathaus, dem Alex vor dem Fernsehturm, die Karl-Marx-Allee entlang, vorbei am Straußberger Platz, wo Anfang der 50er Jahre die ersten Wohnungen von Arbeitern für Arbeiter gebaut wurden.
Hier fanden die Demonstrationen und Paraden der DDR statt und ich erinnere mich selbst an Bilder und Erlebtes aus der Zeit. Und hier ist die Stelle, wo am 4. November 1989 die große Demonstration für die Erneuerung der DDR stattfand, organisiert von Künstlern aus der DDR. Auch ich war zur Teilnahme vom Kleinkunstverband, durch die Unterschrift von Tamara Danz und Toni Krahl dazu aufgerufen worden. Habe es aber vorgezogen, die Veranstaltung an meinem mecklenburgischen Wohnort über TV zu verfolgen. Es war beeindruckend!
Ich erfahre, dass die Berliner Innenstadt zu 80% zerstört wurde im zweiten Weltkrieg. Die DDR, zu der dieser Teil Berlins gehörte, hatte nach dem 2. Weltkrieg enorme Aufbauarbeiten zu leisten, um die Stadt wieder ansehnlich zu machen.
Das Nikolaiviertel baute man 1987 anlässlich der 750 Jahrfeier der Stadt unter anderem wieder auf und wurde zum Ostberliner Vorzeigeviertel der Stadt.
Weiter geht es über die Leipziger Straße zur Friedrichstraße. Diese Straße hatte einen westlichen und einen östlichen Teil, war also politisch und räumlich getrennt.
Hier sehen wir einen symbolischen Wachposten für den Check Point Charlie, verschönt durch die US-amerikanische Flagge. Endlich verstehe ich gewisse Zusammenhänge, kriege ich ein Gespür von dem, was Alex zu berichten weiß. Nämlich, dass dies einer der vier Übergänge von Ost nach West und umgekehrt für die Vertreter der vier Besatzungsmächte war, benannt nach dem Fliegeralphabet: Alpha, Bravo, Charlie, Delta.
Wir erfahren von einer sehr gefährlichen Situation in der Zeit des Kalten Krieges: Verursacht von amerikanischer Seite, standen sich am 27.10.1961 amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber und eine militärische Auseinandersetzung war nur durch das Einlenken, sprich den besonnenen Rückzug der Panzer der Sowjets, möglich. Diese brenzlige, geschichtliche Episode, die beinahe den kalten in einen heißen Krieg gewandelt hätte, war mir in meinem langen Leben zuvor nicht zu Ohren gekommen.
In der Zimmerstraße beeindrucken mich die zwei Reihen Pflastersteine, die bescheiden den Todesstreifen der ehemaligen doppelwandigen Berliner Mauer kennzeichnen, die Mauer, die Berlin vom 13.08.1961 bis 7. 11. 1989 in zwei Teile spaltete: in Ost- und Westberlin.
Auch Reste von ihr sind noch zu finden. Wir steigen am Gropiushaus aus, um uns vor der Mauer zu fotografieren und uns zu wundern, wie mächtig sie war in ihrer Breite und ihrem Längenausmaß: 150 km um Berlin herum, 50 km durch die Stadt hindurch.
Am Potsdamer Platz, im ehemaligen Westberlin gelegen und nach der Wende neu bebaut, bestaunen wir nicht nur die grandiosen, supermodernen Gebäude, u.a. das Sony-Haus, das das Film-Museum beherbergt, sondern auch die erste Ampel der Geschichte. 1924 gebaut, wird sie zum Wahrzeichen des alten Berlins. Natürlich ist der heutige Ampelturm nur eine Replik – doch hübsch anzusehen.
Weiter führt uns die Tour durch den Tiergartentunnel, dem Regierungsviertel mit dem Reichstag und dem Kanzlergebäude.
Wir erfahren dieses und jenes während der Bus uns durch Bauzäune und an manchem Sightseeing-Tour-Bus vorbei führt und ich jedes Mal fürchte, dass mindesten einer der Busspiegel an dieser Begegnung zerbrechen könnte.
Nach zwei erlebnisreichen Stunden, landen wir wieder Unter den Linden an, vollbepackt mit wissenswerten Informationen, vielen Sinneseindrücken.
Mit einem Hinweis auf eine andere empfehlenswerte Video-Bustour verabschiedet sich Alex von den Tour-Gästen, so auch von meiner Wessi-Freundin Sigrid und mir, die ich eine Ossi bin.
Zweiundzwanzig Video-Tour-Reisende verlassen den schwarzen komfortablen Reisebus, zerstreuen sich in alle Richtungen und versinken in den sonnenbeschienenen Straßen vom wiedervereinten Berlin.